Der innere Mensch: mit oder ohne Gesicht?

In der christlichen Tradition gibt es eine interessante anthropologische Kategorie: der innere Mensch. Diese hat biblische Grundlagen (esō anthrōpos / ἔσω ἄνθρωπος in 2. Korinther 4,16 und Römer 7,22), knüpft an die Gestaltung der Innerlichkeit in der antiken Philosophie an und wird von Origenes und Augustinus weiter entfaltet. Wenn der innere Mensch genauso wie der äussere Mensch verfasst ist (mit Augen, Ohren, Mund und Händen), hat er dann auch ein inneres Gesicht? Hat «der verborgene Mensch des Herzens» (1. Petrus 3,4) ein verborgenes Gesicht? Könnte man dieses Gesicht unmittelbar, unverhüllt und ohne Maske sehen?
 

Die Begegnung mit dem Gesicht

Die Frage nach dem Gesicht des Anderen ist eine Frage nach einer Begegnung. In der Tat sagen wir von realen, persönlichen Begegnungen, dass sie face to face stattfinden. In der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen trifft uns ein Blick, und in dem Blickwechsel ergibt sich eine Bedeutung. «Das Gesicht des Anderen hält mich fest durch den Blick, den er auf mich richtet, durch die Gegen-Intentionalität, die seine Augen zum Ausdruck bringen, dadurch, dass es nichts zur Schau trägt und keine Anschauung bietet, also vielleicht durch eine Bedeutung» (Marion, 147). Aber welche Bedeutung ist das und wer schafft sie? Vielleicht entzieht sie sich meinen eigenen Schöpfungs- und Auslegungsmöglichkeiten. Vielleicht entsteht sie erst im Rätsel.


Drei Rätsel

Das Gesicht erscheint als Bild einer unwiederholbaren und unersetzbaren menschlichen Präsenz. Es steht für die Anwesenheit der ganzen Person – und repräsentiert sie. Das abgebildete Gesicht kann sogar als Doppelung einer Person funktionieren und ihre lebendigen Züge (ja sogar ihre Lebendigkeit) übernehmen, wie The Oval Portrait von Edgar Allan Poe andeutet. Woher kommt aber die Vertretungskraft des Gesichts? Diese Frage stellt uns vor das erste Rätsel des Gesichts.

Phänomenologisch gesehen bleibt das Gesicht nur eine Oberfläche. «Das Gesicht gibt tatsächlich nicht mehr zu sehen als jede andere Oberfläche in der Welt auch» (Marion, 146). Der Vorrang dieser körperlichen Oberfläche bleibt unerklärt. Soll man, um es zu verstehen, nach dem verborgenen Sinn des Gesichts suchen? Die Frage nach dem verborgenen Sinn des Vorrangs des Gesichts macht das zweite Rätsel aus.

In der Etymologie der Begriffe persona oder prosōpon / πρόσωπον (Antlitz, Aspekt, Person) steckt auch die theatralische Erscheinung einer «Maske». Als ob diese Maske all das wäre, was man von der Andersheit des Anderen erfahren kann. Die Suche nach dem verborgenen Gesicht stösst also an die Oberfläche der Maske. Man braucht übrigens keine Maske, um das (innere) Selbst zu verbergen. Es genügt das Gesicht. Ein drittes Rätsel kommt also aus der semantischen Verwandtschaft und phänomenologischen Nähe zwischen Gesicht und Maske.


Gesicht, Antlitz, Maske

Das Gesicht hat eine ausserordentliche Plastizität: seine Flexibilität, sich in Maske umzuwandeln, kann mit seiner Fähigkeit, Antlitz zu werden, ausgeglichen werden. Der orthodoxe Theologe Pavel Florenskij unterscheidet klar zwischen «Gesicht», «Maske» und «Antlitz». Für ihn steht «Gesicht» für «die rohe Natur […], an der ein Porträtist arbeitet, die aber noch nicht künstlerisch verarbeitet ist» (Florenskij, 57). Die Realität bleibt in der «Wahrnehmung eines Gesichts» verdeckt, auch wenn diese Wahrnehmung von einer realen Präsenz veranlasst ist. Das Antlitz ist jedoch mehr als das naturgegebene Gesicht. Das Antlitz zeigt die Verwirklichung der tiefsten und umfassenden Potenzialitäten des Menschen: es ist «das im Gesicht verwirklichte Ebenbild Gottes» (Florenskij, 58). Schliesslich setzt Florenskij den Begriff der Maske in Gegensatz zum Antlitz. Denn die Maske zeigt die Entfremdung des Menschen von seinem wahren Selbst, die Spaltung der Persönlichkeit von «ihrem wesenhaften Kern» (Florenskij, 61). Die Maske ist die Erscheinung des Gesichts unter der Herrschaft der Leidenschaften, der fremden Mächte, der Finsternis, der Sünde. Wenn das Antlitz eine Durchlässigkeit für das göttliche Licht an sich hat, hat die Maske eine starre, dichte, undurchsichtige Materialität. Als Maske, getrennt von der Quelle des Lebens und des Lichtes, verliert das Gesicht seine Medialität, seine Transparenz: es ist «nicht mehr Fenster […], aus dem Gottes Licht strahlt» (Florenskij, 62). Wie ist nun die Verwandlung des Gesichts zum Antlitz möglich? Und wo kann man ein Vorbild oder Urbild für diese Verwandlung sehen?


Eine Ikone des wahren und schönen Gesichts

Für das ikonische Verständnis in der Anthropologie aus orthodoxer Perspektive ist das schöne und wahre Gesicht des Menschen im Antlitz Christi zu sehen. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes als wahres «Ebenbild (eikōn / εἰκών) des unsichtbaren Gottes» (Kolosser 1,15) erlaubt eine Beziehung zu Gott durch die Betrachtung des Gesichts Christi. Sie erlaubt aber auch das Sehen des wahren Gesichts des Menschen. Weil Christus vollkommen Gott und vollkommen Mensch ist, wird die Christus-Ikone eine Vergegenwärtigung der Person, die die Vereinigung und die gegenseitige Durchdringung der zwei Naturen in Christus voraussetzt. Somit erscheint im Gesicht Christi die «Fülle der Gottheit» (Kolosser 2,9), aber auch die vom Heiligen Geist völlig durchdrungene Menschlichkeit. Die Christus-Ikone, deren Urbild laut der orthodoxen Ikonentradition in dem nicht von Menschenhand gefertigten Bild von Edessa zu finden ist, zeigt also auch die Vollkommenheit des Menschen als Bild Gottes.

Das Antlitz Christi repräsentiert seine ganze Person, in der die ganze Menschheit zusammengefasst ist. Michel Quenot erläutert: «Gewiss gehört das Antlitz Christi, des neuen Adam […], zu einer genau definierten geschichtlichen Person. Das hindert das heilige Antlitz nicht, der ganzen Menschheit anzugehören, die es in sich zusammenfasst» (Quenot, 132).

Laut einer Aussage von den im 4./5. Jahrhundert verfassten geistlichen Homilien, die unter dem Namen des Makarios überliefert sind, soll die Seele «ganz Licht, ganz Gesicht, ganz Auge» werden (Pseudo-Macarius, 31). Gemeint ist, dass die ganze menschliche Person volle Empfindlichkeit und reine Transparenz für die göttliche Herrlichkeit wird. Mit Florenskijs Vokabular könnte man sagen, dass der Mensch berufen ist, «ganz Antlitz» zu werden. Erst in diesem Antlitz könnte sich das Antlitz Christi widerspiegeln. Erst in dieser Widerspiegelung wird das innere Gesicht, das Gesicht des verborgenen Menschen, sichtbar.

Dr. Dr. Georgiana Huian ist Assistenzprofessorin für Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Christkatholische Theologie

Der vollständige Artikel ist in der bref-Beilage konstruktiv (PDF) der Theologischen Fakultät Bern (2021) zum Thema "Maske und Gesicht" erschienen.


Literatur

  • Pavel Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Russland, Stuttgart 1988.
  • Jean-Luc Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg im Breisgau 2011.
  • Pseudo-Macarius, The Fifty Spiritual Homilies and the Great Letter, New York 1992.
  • Michel Quenot, Die Ikone. Fenster zum Absoluten, Würzburg 1992.