Zwischen Rolle, Person und Maske besteht ein komplexes, aber verdecktes Geflecht. Darauf weist das semantische Feld von persona (lat.) in der Antike hin. Persona kann die Schauspielmaske bedeuten, die auf der Bühne gespielte Rolle, ein öffentliches Amt oder, allgemeiner, die Person oder Persönlichkeit. Im Deutschen gibt es keinen Begriff, der auf dieses Bedeutungsgeflecht hinweist. Die Fäden zwischen Rolle, Person und Maske scheinen zerschnitten. Maske und Person stehen infolge aufgeheizter Authentizitätsansprüche an die Kommunikation im öffentlichen Raum – in Politik, Bildung, Religion und Wirtschaft – in Spannung zueinander. Die Politikerin muss sich als Persönlichkeit in Szene setzen, Emotionen, Ecken und Kanten zeigen. Sie darf sich nicht hinter ihr Amt ducken, getarnt und gewappnet durch eine formalisierte und emotionsfreie Amtssprache. Und der Pfarrer soll auf der Kanzel bitte schön «persönlich» predigen und keinesfalls in den pastoralen Ton verfallen, der seine Stimme maskiert und die Gemeinde wegdösen lässt.
 

Wir alle spielen Theater

Doch trügt der Schein. So hat der kanadische Soziologe Erving Goffman darauf hingewiesen, dass die kategorische Unterscheidung von Rolle und Person eine Selbsttäuschung darstelle, dass wir nicht einmal «echt» seien und einmal «maskiert», sondern dass wir immer eine soziale Maske trügen, in jeder Szene unseres Alltags. Goffman hat recht. Wir spielen immer Theater, von morgens bis abends, aufgrund der Notwendigkeit alltäglichen Handelns und Verhaltens. Wir sind auf die Reduktion von Komplexität angewiesen. In jeder Gesellschaft, in jedem Milieu und in jedem professionellen Setting hat sich eine begrenzte Anzahl sozialer Rollen und Rollenspiele etabliert. Sei es die Rolle der Kellnerin oder des Lehrers, des Busfahrers oder der Studentin, der Pfarrerin auf der Kanzel oder des Seelsorgers am Krankenbett. Selbst in der vermeintlich rollenfreien Familie oder unter lieben Freund:innen tragen wir soziale Masken. Rolle und Maske meint hier die Sprechweise und die Körperhaltung, die Gestik und die Mimik, das Blickverhalten und die Gangart. Gerade wenn die Pfarrerin am Krankenbett «persönlich» und «echt» sein will, bedient sie sich, um diesen Eindruck zu erwecken, geeigneter und etablierter Rollen und Masken.

Dazu wäre viel zu sagen und es wäre zu differenzieren. Uns interessiert hier indes die Frage, was geschieht, wenn die soziale Maske zusätzlich maskiert wird – durch eine Hygienemaske. Wir glauben, hauptsächlich vier Effekte feststellen zu können:

Erstens: Die Hygienemaske bremst die soziale Interaktion. Indem das Gesicht weitgehend abgedeckt ist, sind die erlernten und verinnerlichten Rollen und Rollenspiele, die meist vorbewusst wahrgenommen und interpretiert werden, schwerer entzifferbar. Dies irritiert in Alltagssituationen, weil die etablierten Rollen undeutlich werden und es längere Zeit braucht, bis man sich im sozialen Rollenspiel zurechtfindet. Daraus folgt ein stärkerer Rückzug auf sich selbst, zu einer Art Verinnerlichung im öffentlichen Raum.

Zweitens: Menschen, die in ihren sozialen Rollen eher unsicher sind, scheinen den Schutz durch die Hygienemaske zu schätzen. Zusätzlich bewehrt durch Mütze und Sonnenbrille hat das Leben an Einfachheit und Freiheit gewonnen, denn weder Fassaden noch andere Schutzmechanismen müssen aufgebaut und aufrechterhalten werden.

Drittens: Wer indes seine soziale Rolle markieren möchte, in einer unklaren Situation durchdringen und sich verständlich machen, muss seine verbale und paraverbale Zeichensprache verstärken – durch eine laute Stimme, überdeutliche Artikulation, eine resolute Körpersprache oder Zuhilfenahme von Emojis.

Viertens: Zwang zur Häresie: Statt der etablierten sozialen Masken sind wir über Nacht herausgefordert, unsere vestimentäre Gesichtsfassade zu wählen. Und weil diese Wahl unvorbereitet erfolgt, wirkt sie manchmal beliebig, unbeholfen, komisch oder deplatziert. Ob eine günstige Hygienemaske getragen wird oder eine gut schützende FFP-Maske, eine farblich zum Kleid oder Kirchenjahr passende Stoffmaske oder eine solche mit übergrossem Kussmund oder der Schocker-Fratze eines Totenschädels: immer werden damit soziale Rollenspiele präfiguriert, eröffnet oder verhindert, in eine bestimmte Richtung gelenkt oder verwirrt.

Was folgt daraus für das liturgische Rollenspiel? In welcher Weise verändert die Hygienemaske dieses? Wir veranschaulichen die Frage anhand eines Beispiels.
 

Liturgische Masken?

Paramentenwerkstätten offerieren in der Pandemie ein Novum: Sie bieten Gesichtsmasken speziell für den liturgischen Gebrauch an (www.parament.shop/mund-nasen-masken, 06.05.2021). Sie sind zu haben in den liturgischen Farben, in Violett, Weiss, Grün, Schwarz und Rot. Manche sind gar bestickt mit einfarbigem oder buntem Kreuz, mit Fischsymbol, Lutherrose oder Alpha und Omega. Auch wenn die Gesichtsmaske des Liturgen oder der Predigerin auf diese Weise weniger steril-medizinisch daherkommt und sogar auf die liturgische Bekleidung, den Talar und den jeweiligen gottesdienstlichen Anlass abgestimmt werden kann, erscheint das aufgenähte Symbol nicht nur dekorativ. Kreuz, Fisch oder Alpha und Omega symbolisieren, was die Maske stofflich tut: Sie wehrt Gefahr ab, wehrt der Bedrohung. Zum realen Schutz der Gesundheit kommt ein dekorativer, zentral im Gesicht getragen nicht zuletzt bekenntnishafter Faktor hinzu. Das Symbol auf der Maske, die selbst zum zentralen Symbol für die Corona-Pandemie und sozialen Stillstand geworden ist, scheint nicht ganz frei von magischen wie performativen Vorstellungen. Das allumfassende Alpha und Omega überschreitet oder umschliesst das C-Wort und ordnet es geradezu kosmisch ein. Eine solche Maske, getragen von einer:einem Pfarrer:in im Gottesdienst, sagt (unbewusst?) auch aus: Das letzte Wort hat Christus, nicht die Pandemie. Der auferstandene Christus hat den Tod überwunden – das Kreuz, das mächtige wie deutungsbedürftige Symbol des Christentums, kommuniziert auf der Gesichtsmaske: Christus hat auch das pandemische Sterben schon überwunden.

Inhaltlich stimmen wir dem zu. Gleichzeitig irritiert uns die christliche Symbolik auf der Hygienemaske. Wegen magischer Konnotationen? Zumindest aus lutherischer Perspektive dürfte daran kein Anstoss zu nehmen sein. Liegt sie in einer möglichen Klischeehaftigkeit – zu skurril, zu churchy? Oder in der Kapitalisierung einer medizinischen Notwendigkeit?

Es sind andere Gründe. Die medizinische Gesichtsmaske ist, anders als der Talar, kein genuiner Bestandteil der liturgischen Ausstattung. Im Gegenteil: Sie ist ein Störfaktor kommunikativer Prozesse, pandemiebedingte Notwendigkeit und streng genommen ein Unterbruch des liturgischen Handelns. Die Maske gehört derzeit zum analog gefeierten Gottesdienst dazu und ermöglicht immerhin Begegnungen vor Ort im Kirchraum. Aber sie ist kein liturgischer Gegenstand. Die Variante in liturgischen Farben, mit christlichen Symbolen verziert, legt aber genau dies nahe. Wahrscheinlich besteht darin die grösste Irritation: Sie nimmt der Maske ihren Charakter der Störung, des Unterbruchs und des Ausnahmezustands. Unseres Erachtens sollte sie aber genau diesen Aspekt beibehalten. Nicht zuletzt wäre die Maske damit im rituellen gottesdienstlichen Vollzug näher an dem, was sie aus ritualtheoretischer Perspektive bedeutet und symbolisch leistet: Die Hygienemaske markiert den unbestimmten Zwischenraum, nicht die Dauer. Sie ermöglicht, sich der Ambivalenz zu stellen. Sie zeigt den Unterbruch des Alltags und des Gewohnten an. Sie ermöglicht die Begegnung mit dem nicht Begegnenbaren. Sie schafft die «Narrenfreiheit» des:der Träger:in – indem sie individuelle Merkmale und soziale Rollen vorübergehend verdeckt und durch inszenierte Anonymität alternative Handlungsspielräume ermöglicht. Das ist nicht nur im biographischen Initiations- bzw. Passageritus oder in der Fasnacht so. Sie ermöglicht zeitlich begrenzte (symbolische) Begegnungsräume, im Fall der medizinischen Gesichtsmaske im doppelten Sinne: Sie symbolisiert zugleich, was sie real bietet – Schutz, Abstand, Ambivalenz. Die Maske löst das Paradoxon nicht in ein modisches Accessoire auf, sondern entspricht der faktischen Bedrohlichkeit des Zwischenzustands. Damit ist sie angemessen. Sie ermöglicht aus medizinischer wie aus ritualtheoretischer Perspektive einen gesicherten Umgang mit grundlegender Veränderung. Auch religionswissenschaftlich ist die materialisierte Maske häufig mit der Schwelle zwischen Tod und Leben und mit Krankenheilungen verbunden. Die Maske hält symbolisch und zuweilen sehr konkret das transformative Potenzial des Übergangs vorübergehend geöffnet.

Nicht zuletzt ist es das, worauf wir (mit guten Gründen) hoffen: Die Pandemie und die zu ihrem Symbol gewordene Maske ist ein Unterbruch, kein Zustand auf Dauer. Dem medizinischen Setting entnommene sowie improvisierte Masken scheinen uns dem eher zu entsprechen, als auf den Talar und das Kirchenjahr abgestimmte, in die gottesdienstliche Liturgie integrierte «modische» Masken es tun. Die Hygienemaske stört das liturgische Rollenspiel, und das soll auch so bleiben. Wir wollen ihr Tragen gerade nicht auf Dauer stellen, sondern die Wurzeln ihrer derzeitigen Notwendigkeit aus der Welt schaffen. Dafür braucht es kluge Politik, Gebet und Solidarität, nicht aber elegante Accessoires.

Dr. Miriam Löhr ist Postdoktorandin am Institut für Praktische Theologie und der Interfakultären Forschungskooperation der Uni Bern.

Dr. David Plüss ist Professor für Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie am Institut für Praktische Theologie der Uni Bern.

Der vollständige Artikel ist in der bref-Beilage konstruktiv (PDF) der Theologischen Fakultät Bern (2021) zum Thema "Maske und Gesicht" erschienen.
 

Literatur

  • Gerhard Baer, Art. Maske I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 5 (2002), 887.
  • Erving Goffman, Wir spielen alle Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2002.
  • Victor Turner, Betwixt and Between. The Liminal Period In Rites de Passage, in: June Helm (Hg.): Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. American Ethnological Society, Seattle 1964, 4–20.