Gesicht und Charakter

Auf der Scherbe eines antiken Mischkrugs aus dem süditalischen Tarent (4. Jh. v. Chr.) ist ein antiker Schauspieler abgebildet, in der Hand seine Maske. Es ist eine in ihrem Realismus einzigartige Darstellung: Nachdem er die Maske ausgezogen, die Rolle abgelegt hat, stehen Maskengesicht und individueller Gesichtsausdruck einander gegenüber. Hinter der heroischen Maske mit dem wallenden Haar die schüttere Realität – skeptisch scheint der Schauspieler auf seine Rolle und auf sich selbst zu blicken.

Das griechische Wort für «Maske», prosōpon (πρόσωπον), meint zunächst einmal das Gesicht, den «Anblick». Das lateinische persona wurde traditionell von der Theatermaske hergeleitet (personare: «hindurchtönen»). Dabei handelt es sich aber um eine Volksetymologie – tatsächlich kommt das Wort von dem etruskischen phersu. Da sich im antiken Theater ein Akteur einer Maske bediente, um in eine Figur zu schlüpfen, bezeichnet sowohl das griechische prosōpon als auch das lateinische persona zugleich den Charakter, also die Rolle, die ein Schauspieler mittels seiner Maske darstellt. Es gab eine Reihe idealtypischer Masken, die für bestimmte Charaktere (Heros, König, Bettler, Alte) Verwendung fanden.

Auch bestimmte griechische Kulte schlossen die Verwendung von Masken ein, wie etwa derjenige der Artemis Orthia oder der arkadischen Demeter. Durch das Tragen der Maske vollzieht sich eine Verwandlung – zum Tier, zum Heros oder zum Gott. Man tritt aus der eigenen Persönlichkeit, ja aus der Natur heraus und wandelt sich temporär.

Die Würzburger Scherbe stellt einen Zusammenhang und Kontrast zwischen zwei Realitäten her: zwischen der Rolle, der Maske, einerseits und andererseits der eigenen Identität des Schauspielers. Damit diskutiert und problematisiert sie zugleich die Maske gewissermassen als die Aussenseite des Selbst. Hinter ihr kann man sich verstecken und durch sie repräsentiert man etwas, das man vielleicht gar nicht ist, oder nur zum Teil. Andererseits kann die Maske im Sinne der Aussenseite des Selbst aber auch etwas gegenwärtig machen, was anders gar nicht sichtbar wäre.

Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich ein vieldimensionaler Assoziationshorizont für prosōpon / persona. Kein Wunder, dass sich dieses Wort etwa auf soziale und psychologische Vorgänge übertragen liess – bereits in der Antike. Man kann eine Maske aufsetzen.


«Maske» als Medium der Gottesvermittlung

In der Theologie wurde diese Metaphorik bereits in der Bibel und dann in der frühen Dogmengeschichte und von dort aus in der Systematischen Theologie wichtig. Eben dieses Wort, prosōpon / persona, wird in den trinitätstheologischen und christologischen Auseinandersetzungen des 4. / 5. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen. Denn mit ihm lässt sich die Frage von Identität und Differenz, mithin die Frage nach der Möglichkeit von Repräsentanz und Rezeption des Göttlichen unter den Bedingungen der körperlichen Welt stellen. Das Neue Testament spricht von dem «König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnt in einem Licht, zu dem niemand kommen kann, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann» (1. Timotheus 6,16). Der Ewige, Unsichtbare ist kategorial von der Welt unterschieden – wie aber soll er sich in die körperliche Welt hinein vermitteln? Solche Vermittlung kann offenbar immer nur indirekt erfolgen, das betonen christliche, jüdische und pagane Autoren im Umfeld des Neuen Testaments gleichermassen. Es braucht eine Maske oder ein Medium: Propheten in der biblischen Tradition, in der griechisch-römischen Kultur im Orakelkult die Pythia in Delphi oder in der Philosophie Sokrates und sein Daimonion. Bisweilen nimmt der Geist eine solche vermittelnde Zwischenstellung ein, prominent etwa im Lukasevangelium.


Das Aussen betrachten – ins Innere blicken

Auf der Würzburger Schale treten Maske und Realität auseinander, nebeneinander. Damit ist die Frage gestellt: Was eigentlich ist real – der Mythos, die Maske, das Ideal oder das Vorfindliche, Machbare, Ungeschminkte?

Wenn im ersten Schöpfungsbericht gesagt wird: «Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde» (Genesis 1,27) und damit der Mensch als Repräsentant Gottes erscheint, dann fragt sich in den Kategorien theologischer Anthropologie, worauf sich diese Aussage bezieht: auf den Menschen als Ideal, als Urbild oder als nackte, bisweilen hässliche Realität?

Die Frage, von wem hier eigentlich gesagt wird, er spiegele das Bild Gottes wider – der Mensch, wie ihn Gott einst geschaffen und gedacht hat (und am Ende restituiert), oder der Mensch, wie er vorfindlich ist –, berührt offensichtlich auch die Gotteslehre. Was für ein merkwürdiger Gott, der sich durch diesen Menschen in seiner Schwachheit und Unzulänglichkeit repräsentieren lässt! Kann man den Menschen wirklich als die Aussenseite Gottes verstehen und behaupten, dass in ihm der unsichtbare Gott wiedererkennbar ist? Führt das nicht zu einer verquer anthropomorphen Gottesvorstellung und zu einer Anthropologie der Unterwerfung der Welt unter die Herrschaft des gottgleichen Menschen – jener Anthropologie, von der wir uns und die Welt seit Jahrzehnten zu lösen versuchen?

Drei Dinge sind hier neutestamentlich wichtig: Zunächst im Blick auf die Anthropologie: Gott selbst schaut nicht auf die Aussenseite, egal wie glänzend oder verschmutzt sie ist (Apostelgeschichte 10,34; Galater 2,6; Römer 2,11; Epheser 6,9; von Jesus: Markus 12,14; Lukas 20, 21), und deshalb sollen wir das auch nicht tun (Jakobus 2,1.9). Wir würden sonst den «guten Namen lästern, der über uns (in der Taufe) genannt ist» (Jakobus 2,7). Soll heissen: In der Taufe erhält der Mensch in Christus eine neue Identität, er wird zu dem, was er eigentlich immer schon ist, zum Bild Gottes. Was spielen dann Äusserlichkeiten noch für eine Rolle?

Das führt zweitens auf einen christologischen Punkt: Die Herrlichkeit Gottes kommt zur Ansicht auf dem Angesicht Christi als dem Bild Gottes (2. Korinther 4,4–6). Jesus also ist, als der in der Auferstehung vollendete, als der eigentliche Mensch, das zur Welt hin gewandte Aussen Gottes: «Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen» (Johannes 14,9). Die Evangelien bezeichnen Jesus als den «Kyrios» (den «Herrn»), also mit dem Wort, das in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, regelmässig den Gottesnamen (JHWH) wiedergibt. Ganz unbekannt sind solche Überlegungen freilich auch der hebräischen Bibel nicht. Im Hain Mamre (Genesis 18) erhalten Abraham und Sara Besuch von drei Gästen, deren genaue Beziehung zu Gott nicht letztendlich geklärt wird – Anlass genug für Philon von Alexandrien und in seiner Folge verschiedene Kirchenväter, sich Gedanken darüber zu machen, in welcher Gestalt sich Gott ausgewählten Menschen sichtbar macht.

Schliesslich zur Gotteslehre: Während der vorfindliche Mensch noch einen Anblick bietet, der es bisweilen schwer macht, Gott in ihm wiederzuerkennen, erweist sich Gott als der, der schon lange im Menschen das Angesicht Christi wiedererkannt (1. Korinther 13,12) und damit den Menschen zum Ebenbild und zu einer «neuen Schöpfung» gemacht hat (2. Korinther 5,17; Galater 6,15). So oder so, der Gedanke vom Menschen als Bild Gottes fordert jedes Denken über Gott heraus. Er ist eschatologische Zusage, präsentischer Anspruch und theologische Provokation zugleich.

Dr. Rainer Hirsch-Luipold ist Professor für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte am Institut für Neues Testament.

Der vollständige Artikel ist in der bref-Beilage konstruktiv (PDF) der Theologischen Fakultät Bern (2021) zum Thema "Maske und Gesicht" erschienen.


Literatur

  • Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013.
  • Manfred Brauneck, Masken. Theater, Kult und Brauchtum. Strategien des Verbergens und Zeigens, Bielefeld 2020.