«Die schönste Erfahrung ist es für mich, wenn ich merke: jetzt habe ich die richtigen Worte gefunden. Etwa, als eine Frau nach einem intensiven Gespräch über ihren Leidensweg und nach einem Gebet zu mir sagte, nun könne sie ein bisschen loslassen. Das war ein kostbarer Moment, den wir geteilt haben» , erzählt Charlotte Jussli. Im Rahmen ihres Theologiestudiums an der Uni Basel hat sie in den vergangenen Monaten ein Seelsorgepraktikum im Universitätsspital Zürich absolviert. Nach einer Kurswoche, in der sie und zehn weitere Studierende geschult und vorbereitet wurden, besuchte sie an zehn Halbtagen Patientinnen und Patienten der Inneren Medizin. Für Charlotte war das Praktikum mehr als eine Pflichtübung: «Ich habe mich darauf gefreut, denn seit Langem interessiere ich mich für eine Tätigkeit als Seelsorgerin – sei es in einer Klinik, einem Gefängnis, der Kinderpsychiatrie oder dem Hospiz. Nun hatte ich endlich die Gelegenheit, die Praxis kennenzulernen.»

«Die Leute sprechen gerne mit uns»

Begleitet und unterstützt wurde Charlotte von Spitalseelsorgerin Barbara Oberholzer, die seit zwanzig Jahren als Praktikumsleiterin tätig ist. Sie hat Charlotte als motiviert und interessiert erlebt und es geschätzt, wie viel Zeit sie sich für die Patientinnen und Patienten nahm. «Viel wichtiger als meine Impulse sind die Begegnungen mit den Menschen, die meine Praktikantinnen besuchen», ist Barbara Oberholzer überzeugt. «In den Gesprächen erleben sie, dass sie willkommen sind, dass sie nicht zu jung sind und die Leute gerne mit ihnen sprechen.» In die Rolle als Seelsorgerin müsse man hineinwachsen. Die Spitalkleidung, findet Charlotte, hilft dabei. Sie sei in dieser als Mitarbeiterin erkennbar gewesen und habe sich ernst genommen gefühlt.

Während manche Menschen trotz des Spitalaufenthalts unbeschwert sind und sich über ein wenig Small Talk freuen, leiden andere stark unter ihrer Situation. «Für die Studierenden ist es immer eine Herausforderung, mit Leidensgeschichten konfrontiert zu werden», erzählt Barbara Oberholzer. «Wie reagiere ich als Seelsorgerin darauf? Wie kann ich Betroffenheit ausdrücken, wie kann ich Hilflosigkeit aushalten?» Charlotte Jussli war sich bewusst, wie wichtig professioneller Abstand ist, haderte aber in manchen Situationen dennoch mit ihrer starken persönlichen Betroffenheit. «Manche Gespräche beschäftigten mich noch lange nach Feierabend. Etwa, wenn mir Patientinnen von der häuslichen Gewalt berichteten, die sie erlebt hatten. Auch wenn die Vorkommnisse weit zurücklagen, nahm es mich mit, davon zu hören.» Sie habe gelernt – auch wenn es ihr nicht immer gleich gut gelang –, das Leid zu würdigen, ohne sich darin zu verlieren.

Den Glauben ins Gespräch bringen

Ein anderes Thema, dass Studierende im Seelsorgepraktikum beschäftigt, ist das Thema Spiritualität. «Viele fühlen sich da unnötig unter Druck», stellt Barbara Oberholzer fest. «Wie rede ich über Gott? Wie bringe ich die Bibel ins Gespräch? Als Praktikumsleiterin versuche ich zu entwarnen und sage: jetzt gehen wir zuerst einmal auf diese Menschen zu und nehmen sie wahr, wie sie sind. Danach sehen wir, ob und wie der Glaube eine Ressource für sie sein kann.» Charlotte kann die Anzahl Gebete, die sie mit Patientinnen und Patienten gesprochen hat, an einer Hand abzählen. Sie ist überzeugt, dass es bei der Seelsorge darum geht, den Menschen ein Gegenüber zu sein und dem Raum zu geben, was sie beschäftigt. Wenn der Glaube ins Spiel kommt, freut sie das. Aber die christliche Botschaft, dass die Menschen von Gott geliebt, gesehen und angenommen sind, vermitteln Seelsorgerinnen auch ganz ohne Worte.

«Nach wie vor habe ich grossen Respekt vor der seelsorgerlichen Tätigkeit», fasst Charlotte ihre Erfahrung zusammen. «Aber ich fühle mich sehr bestärkt in meinem beruflichen Interesse daran.» Sie empfiehlt auch denjenigen Theologiestudierenden, das Seelsorgepraktikum zu machen, die nicht Pfarrer oder Pfarrerin werden möchten. «Die Erfahrung im Spital hat mir gezeigt, wie facettenreich das Menschsein ist. Es hat mich tief beeindruckt zu hören, was die Menschen bewegt, was sie durchgemacht haben und wie sie mit ihrem Schicksal umgehen. Ich habe viel von ihnen gelernt.»

Ende August ist Anmeldeschluss für das Praktikum im Frühjahrssemester 2022. Weitere Infos:

https://www.bildungkirche.ch/seelsorgepraktikum