In jedem Winkel der Geschichte

 

Mich hat nicht mein Glaube oder das Interesse an Spiritualität zur Theologie gebracht. Als Sohn eines Pfarrers stehe ich zwar der reformierten Tradition nahe, aber die Religion spielte keine Rolle in meinem Alltag. Ich habe sie als angenehme Nebenerscheinung wahrgenommen, sie wurde in der Familie subtil und fein dosiert verabreicht. In der Adventszeit stand eine Krippe im Wohnzimmer, aber Tischgebete sprachen wir nicht.

Studieren wollte ich zunächst Philosophie und Geschichte. Nach einer kaufmännischen Lehre und Sprachaufenthalten im Ausland schrieb ich mich in der Abendschule ein und holte die kantonale Matura nach. Ein Besuch des Infotags der Universität Basel liess mich dann auf die Theologie umschwenken: Mich begeisterte die Möglichkeit, in einem Studiengang meinen breit gefächerten Interessen nachzugehen. In der Theologie kann ich den grossen Bogen schlagen und alles miteinander verknüpfen: Kunst und Kultur, Geschichte und Ethik, Philosophie und Sprachen.

Theologie ist in jedem Winkel der Geschichte. Ich liebe es, sie aufzuspüren und zu entdecken – auch ausserhalb des Studiums. Wenn ich in der Pinakothek biblische Darstellungen aus dem Mittelalter betrachte, wenn ich über ethische und gesellschaftspolitische Fragen diskutiere, wenn ich gotische Architektur bestaune. Mit dem Theologiestudium hat sich für mich ein Kosmos aufgetan.

Der persönliche Glaube nimmt bei mir nach wie vor nicht viel Raum ein. Ich lebe meine Spiritualität in der Kontemplation von Gemälden, im Feiern unseres kulturellen Erbes. Die Bibel fasse ich nicht mit Samthandschuhen an. Dennoch merke ich, dass mich die Theologie auch persönlich bewegt. Manche motiviert ihr Glaube zum Studium und die Wissenschaft bringt sie aus dem Konzept. Bei mir ist es eher umgekehrt: Mir bahnt die Wissenschaft einen Weg zum Glauben.

Michael Klaiber: "In der Theologie hat sich ein Kosmos für mich aufgetan"