Die zweite Chance

 

Der Geruch unserer Dorfkirche hängt mir noch in der Nase. Es war ein schöner, sinnlicher Ort für mich. Und es beeindruckte mich, wie feierlich sich die sonst unnahbaren Bergbauern die Hände schüttelten und auch mich kleines Mädchen persönlich grüssten.

Von dem, was der Pfarrer im Unterricht erzählte, verstanden wir nicht viel. Aber er erzählte es mit so viel Herzblut und Überzeugung, dass wir doch davon erfasst wurden. Es war das Gefühl von etwas Bedeutendem, das uns vermittelt wurde. Zur Konfirmation erhielt ich einen Spruch, in dem steht, dass Wahrheit frei macht. Dieser Vers brachte mich in jedem Lebensabschnitt neu zum Nachdenken.

Als ich während meines Archäologiestudiums in eine Sinnkrise geriet, dachte ich darüber nach, zur Theologie zu wechseln. Doch mein Glaube fühlte sich nicht reif genug an und kam durch die naturwissenschaftlich-kritischen Fragen meines heutigen Ehemannes zusätzlich ins Wanken. Ich legte das Thema Religion beiseite, schloss mein Studium und Doktorat ab und widmete mich meiner grösser werdenden Familie.

Erst eine Lesegruppe der Kirchgemeinde, in der wir mit Begeisterung philosophische und theologische Literatur diskutierten, brachte mich nach einem guten Jahrzehnt wieder in näheren Kontakt mit der Kirche. Die Auseinandersetzung verhalf meinem Glauben aus den Kinderschuhen. Etwa zur gleichen Zeit stieg ich wieder ins Erwerbsleben ein. Bei der Arbeit im Museum entdeckte ich meine Freude daran, mit Gruppen zu arbeiten und Wissen zu vermitteln. Doch fehlte mir in meinem Beruf eine langfristige Perspektive. So war ich geradezu elektrisiert, als ich beim Bündeln des Altpapiers zufällig auf die Anzeige des neuen Studiengangs für Quereinsteigerinnen ins Pfarramt stiess: hoppla, ich könnte ja auch noch etwas richtig Spannendes machen!

Das ITHAKA-Studium betrachte ich als meine zweite Chance, mein Interesse an theologischen Fragen zu vertiefen und gleichzeitig zu der erfüllenden beruflichen Aufgabe zu kommen, die ich für die verbleibenden Berufsjahre suche. Als Pfarrerin möchte ich eine Sprache und Rituale finden, die auch kirchenkritische Menschen ansprechen. Gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Menschen möchte ich an einer lebenswerten Zukunft bauen.