Theologie ist keine exakte Wissenschaft. Wieso also sollten sich Theologinnen und Theologen mit mathematischen Formeln herumschlagen? Mit Tertullian könnte man an ein solches Unterfangen die kritische Rückfrage stellen: „Was hat die Bibel mit Mathematik zu tun, Interpretation mit Wahrscheinlichkeitstheorie, die Exegetin mit der Wissenschaftlerin?“

Wie plausibel sind unsere Hypothesen?

Doch genau um diesen Zusammenhang geht es in dem neuen interdisziplinären Projekt „Bayes and Bible,“ das an der Universität Basel durchgeführt und von der cogito foundation finanziert wird. (Mehr Informationen gibt es auf der Webseite). Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Rolle der „Satz von Bayes“ für die Auslegung biblischer Texte und die Erforschung ihrer Kontexte spielen kann. Bei diesem Satz – der übrigens auf einen Geistlichen, den Pfarrer Thomas Bayes (1701-1761), zurückgeht – handelt es sich um die Beschreibung eines grundlegenden Verhältnisses abhängiger Wahrscheinlichkeiten. Man fragt also beispielsweise nicht einfach im Vorhinein, wie wahrscheinlich es ist, dass es in der kommenden Nacht regnen wird. Die Situation ist vielmehr die, dass man am nächsten Morgen für die Türe tritt und sieht, dass der Boden feucht ist und jetzt in der Retrospektive einschätzen will, ob es wohl geregnet hat (oder etwa der Nachbar nur besonders früh seine Blumen gegossen hat). Das ist nun eben genau die Situation, in der sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder befinden: Sie beobachten neue Evidenz und müssen prüfen, wie sich das auf die Plausibilität von konkurrierenden Hypothesen auswirkt. Entsprechend hat dieser eigentlich recht simple Satz der Mathematik hat in zahlreichen naturwissenschaftlichen Gebieten mittlerweile eine grosse Relevanz erreicht.

Nicht nur für die Mathematik nützlich

Meist liegen bei den entsprechenden Bayesianischen Schlüssen statistische Werte als Ausgangswert (Prior-Wahrscheinlichkeit) zugrunde und auch der für die Berechnung relevante Faktor des Erklärungswertes der Hypothese (Likelihood) lässt sich in der Regel so erfassen. Über die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese angesichts neuer Evidenz lässt sich nur dann etwas sagen, wenn man beide Faktoren abschätzen kann. In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen hat sich in der Zwischenzeit aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Satz von Bayes auch dann sehr relevant ist, wenn man keine konkreten Zahlen angeben kann. Er hilft dabei, subjektiv empfundene Überzeugungen zu Hypothesen in Anbetracht neuer Evidenz richtig anzupassen. Auch Theologinnen und Theologen sprechen ja ständig von „wahrscheinlichen“ und „unwahrscheinlichen“ Erklärungen und machen dazwischen sehr viele Abstufungen.

Entscheidend ist: Wer so über bibelwissenschaftliche Hypothesen spricht, lässt sich auf ein Sprachspiel ein, indem die Struktur des Satzes von Bayes dann obligatorisch ist. Man muss die mathematischen Details natürlich nicht kennen, um intuitiv richtig zu argumentieren. Aber eine Argumentation, von der man zeigen kann, dass sie die Struktur des Satzes von Bayes missachtet, ist dann nachweislich nicht schlüssig. Und leider führt die menschliche Intuition öfter ganz grundlegend in die Irre, wenn es darum geht, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Erklärt eine Hypothese einen Befund – einen archäologischen Fund oder eine Formulierung im Text, etc. – gut (man würde von einer hohen „Likelihood“ sprechen), neigen, so zeigt die psychologische Forschung, beispielsweise selbst Akademikerinnen und Akademiker dazu, die Erklärung für „wahrscheinlich“ zu halten. Der Satz von Bayes weist nach, dass ein solches Urteil auf dieser Grundlage noch gar nicht möglich, definitiv ein Fehlschluss, ist. (Das hat ganz konkrete Konsequenzen. Ärzte meinen beispielsweise überwiegend, ein positiv ausfallender medizinischer Test, der eine nur 5%ige Falsch-positiv-Rate aufweist, impliziere, die getestete Person sei mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% krank – obwohl unter Umständen diese Wahrscheinlichkeit sehr niedrig sein kann. Siehe Bericht.)

Interdisziplinäres Online-Forschungsseminar

In unserem Online-Forschungsseminar kommen nun Expertinnen und Experten der Wahrscheinlichkeitstheorie, Erkenntnistheorie, Naturwissenschaften (insbesondere Biologie und Physik), ähnlich gelagerten Geisteswissenschaften (v.a. Geschichtsforschung) und Theologie (v.a. der neutestamentlichen Wissenschaft) zusammen. (Einige der Teilnehmenden stellen sich auf der Website vor). Dabei können wir, die Theologen, davon lernen, wie in anderen Wissenschaftsbereichen der Satz von Bayes bereits mit grossem Erfolg angewendet wird. Das Ziel ist es, zu beleuchten, wie ganz verschiedene Probleme der Erforschung der Bibel – von der Frage nach dem historischen Jesus, über Textkritik und die synoptischen Evangelien bis hin zur Interpretation der Paulusbriefe – klarer diskutiert werden können, wenn man den Satz von Bayes berücksichtigt. Im Zuge dessen soll auch ein Lehrbuch entstehen, das vom Verlag Eerdmans publiziert werden wird. Denn die Erfahrung zeigt, dass Studierende von den zahlreichen Methoden und Kriterien, mit denen sie im Studium konfrontiert werden, oft verwirrt sind, da deren Zusammenhang oft nicht klar ist und sie sich teilweise sogar zu widersprechen scheinen. Der Satz von Bayes liefert hier ein Meta-Kriterium, das zeigt, wie solche Ansätze gewinnbringend miteinander verbunden werden können.

Wichtig ist für das Projekt auch, dass Nachwuchsforschende dabei unterstützt werden, ihre Forschungsprojekte frühzeitig vor dem Hintergrund des Satzes von Bayes zu konzipieren. Dabei zeigt sich nämlich oft mit überraschender Klarheit, wo in der bisherigen Forschung noch Lücken bestehen oder wo diese auch in eine Sackgasse gelandet ist. Wer den Diskussionen gerne beiwohnen möchte, kann einfach eine kurze eMail an Christoph Heilig (christoph.heilig@unibas.ch) schicken.

Christoph Heilig ist Postdoc und Assistent für Neues Testament an der Universität Basel.