Gefangene umarmen

 

Kurz nach meiner Matur ist mein Vater gestorben. Ich fragte mich: Was gilt jetzt? Was hat Bestand? Das waren Fragen, auf die mir Philosophie keine Antwort geben konnte. Philosophie ist immanentes Denken, sie übersteigt unsere Erfahrung nicht. Theologie hingegen übersteigt diese Grenzen. Ich las Widerstand und Ergebung von Dietrich Bonhoeffer. Er redet von der Beziehung zu Gott – im Glauben verbinden sich Immanenz und Transzendenz. Das hat mich geprägt.

Für das Theologiestudium entschied ich mich auch aus einem zweiten Grund. An der Mittelschule in Aarau lernte ich Hebräisch bei einem älteren Pfarrer, der einen sehr humorvollen Umgang mit den alttestamentlichen Texten pflegte. Während des Studiums schätzte ich Professoren mit einem gewissen Schalk. Einer beschrieb die verschiedenen Christologien als eine Abfolge von menschlichen Projektionen. Er war intellektuell frech, und das Eindrückliche war: In seinem Glauben erschütterte ihn das nicht.

Das Gefängnis lernte ich im Vikariat kennen. Es ist eine verbotene und verborgene Welt. Ich bin relativ normal, hatte nie Abstürze und lebe vergleichsweise bieder. Umso mehr faszinierte mich diese Frechheit des Andersseins, der ich in der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf begegnete.

1996 konnte ich auf Vermittlung der Basler Mission als Gefängnisseelsorger nach Hongkong gehen. Daneben bin ich dort an der Divinity School of Chung Chi College, die zur staatlichen Chinese University of Hong Kong gehört, Professor für westliche Kirchengeschichte und Missionswissenschaft. Meine Faszination für die Gefangenen kann ich als Zuneigung zeigen. Die Insassen sind liebesbedürftig, das zeigen sie ganz offen. Ich umarme sie dann fest. Ich begegne den Gefangenen ohne Vorurteile. Sie sind nicht einfach Kriminelle, sie sind Menschen, die, neben viel anderem, grossen Mist gebaut haben. Im Grund sind sie sehr liebenswerte Personen.