Momente der Stille

 

Ich war die Einzige von drei Geschwistern, die dem Mitternachtsgottesdienst entgegenfieberte und begeistert die Weihnachtslieder aus dem Gesangbuch mitsang. Die Atmosphäre in der Kirche faszinierte mich, ich fühlte mich aufgehoben und Teil von etwas Grösserem. Schon als kleines Mädchen erklärte ich meinen Eltern: Ich will Pfarrerin werden.

Dieser Entschluss geriet ins Wanken, als ich Theologie studierte. Die Sprachen fielen mir leicht, aber wenn es um die Bibel und den Glauben ging, kam ich mir vor wie von einem anderen Stern. Ich wusste nichts! Auch die Formen von Spiritualität, die ich bei Mitstudierenden erlebte, waren mir fremd. Ich begann stark daran zu zweifeln, ob ich wirklich Pfarrerin werden sollte. Zweimal bewarb ich mich für andere Ausbildungen, zuerst wollte ich Hebamme werden, dann Polizistin. Beides Mal scheiterte ich an der Zulassung.

Erst nach dem Studium habe ich gelernt, meinen eigenen Zugang zum Glauben und zur Kirche zu erkennen und wertzuschätzen. Spiritualität heisst für mich: Momente finden, in denen ich mich fürs Göttliche öffnen kann. Bei mir geschieht dies, wenn ich allein bin, die Stille suche, in der Natur. Bei anderen geschieht es in der Gemeinschaft. Etwa bei dem Mann, dem wir letztes Jahr einen Adventsgruss nach Hause schickten. Es entstand eine intensive seelsorgerliche Beziehung zu ihm, obwohl er nie etwas mit Kirche anfangen konnte. Letzten Sonntag sah ich ihn im Gottesdienst. Er stand beim Segen da, mit offenen Händen. Und sagte mir: Ich habe endlich wieder Sinn gefunden und etwas, was mich erfüllt, wenn ich mich leer fühle.

Kirche soll da sein und solche Momente ermöglichen. Sie soll Räume öffnen, Gefässe anbieten, Menschen auf ihrer Suche begleiten. Dafür muss sie verschiedene Formen annehmen. Ich weiss nicht, ob ich lebenslang Pfarrerin sein werde. Aber jetzt bin ich es gerne.