Traurige trösten

 

Ich hatte nie Angst, meinen Glauben zu verlieren. Mein Vertrauen ist gross genug, das hält viele Unsicherheiten aus. Und die theologische Fakultät betrat ich sowieso mit mehr Fragen als festen Überzeugungen, um die ich mich hätte sorgen müssen. Ich wollte etwas über feministische Theologie erfahren. Ich wusste, dass der Heilige Geist auf Hebräisch ruach heisst, also eine weibliche Gottkraft ist. Ich wollte alles verstehen.

Im Laufe des Studiums merkte ich, dass mich etwas anderes ebenso interessiert wie die grossen Fragen: Die Praxis. Zum Studium gehörte ein Seelsorgepraktikum. Das fand ich aufregend. Man klopft an eine Tür, tritt ein und fragt einen Wildfremden: Wie geht es? – Eine sagte: Na, müssen Sie noch ein bisschen Seelsorge üben? Andere vertrauten mir ihre Lebensgeschichte an.

Die Seelsorge-Stelle an der psychiatrischen Klinik in Rheinau bekam ich kurz nach dem Studium. Berufsbegleitend machte ich eine Spezialausbildung in Seelsorge. Mir war wohl bei der Vorstellung, mit psychisch Kranken zu arbeiten. Ich finde es spannend, auf fremde Menschen zuzugehen.

Ich staune immer wieder, wie viel Vertrauen mir entgegengebracht wird. Bestimmt liegt das auch daran, dass ich «von aussen», nicht von der Klinik komme. Am liebsten gehe ich mit den Patienten nach draussen spazieren. Viele sagen mir: Ich fühle mich nicht wohl hier. Manchen hilft es schon, das sagen zu können.

Manchmal höre ich: Ich habe keine Hoffnung mehr. Gott ist nicht da. Ich sage dann: Ja, das fühlen Sie jetzt so. Und ich gehe mit Ihnen auf diesem Weg. Mein Auftrag ist es, Kranke zu besuchen und Traurige zu trösten, egal welche Weltanschauung sie mitbringen. Da braucht es nicht immer Gott. Manchmal kommt es aber vor, dass Leute, die lange verzweifelt waren, rückblickend sagen: Ja, Gott war immer dabei.