«Die Komfortzone existiert vor der Kamera nicht mehr»
Die Coronakrise hat viele Kirchgemeinden dazu bewegt, Kirche digital zu gestalten. Einige innovative Angebote haben durchaus Potential. theologiestudium.ch hat mit Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, über die Chancen und Risiken der Digitalisierungswelle für die Kirche gesprochen.
Herr Schlag, welche digitalen Angebote der Kirche sind Ihnen in der Zeit des Veranstaltungsverbots besonders aufgefallen?
Thomas Schlag: In der letzten Zeit habe ich mir viele Gottesdienste angeschaut. Dabei habe ich mich zuerst gefragt, wie man die kirchlichen Angebote überhaupt auffindet. Bereits in der Zugänglichkeit unterscheiden sich die Kirchgemeinden stark. Die Spannweite reichte hier von spannenden digitalen Angeboten bis hin zu Homepages von Kirchgemeinden, auf denen keine digitalen Angebote zu finden waren. In der Qualität unterschieden sich die Gottesdienste ebenfalls stark. Grundsätzlich finde ich jedoch vieles erstaunlich und toll, was hier in den vergangenen Monaten auf die Beine gestellt wurde. Verschiedene Kurzandachten und eine Konfirmation, bei der sich die Konfirmanden und Konfirmandinnen per Videochat in den Gottesdienst einbrachten, sind mir in besonders guter Erinnerung.
Welche Risiken gibt es, die durch die Digitalisierungswelle ausgelöst wurden?
Die Länge eines aufgezeichneten Gottesdienstes sollte dem Medium angepasst werden und wohl eher nicht die übliche Länge haben. Zudem habe ich das Gefühl, dass man durch die Digitalisierungswelle stärker merkt, was im analogen Gottesdienst bereits nicht mehr stimmt. Ich frage mich, ob die One-Man-, One-Woman-Show, inklusive der gesprochenen Sprache, nicht zu distanziert von der Gemeinde ist. Es besteht das Risiko, dass die Distanz zwischen den Pfarrerinnen und Pfarrer und der Gemeinde durch die Digitalisierung noch grösser wird. Der Gottesdienstbesucher rutscht noch stärker in die ohnehin schon häufige Rolle des Betrachters. Ein weiteres Risiko sehe ich darin, dass die Kirchen aus den Erfahrungen und Risiken keine Konsequenzen ziehen.
Sie sprechen es an, Risiken können auch zu Chancen werden. Welche Chancen bringt denn die Digitalisierungswelle für die Zukunft der Kirche?
Die Sozialen Medien wurden vermehrt entdeckt und können in Zukunft eine stärkere Kommunikation in den Alltag hinein ermöglichen. Als Kirche kann man so noch prägnanter, kürzer und punktueller präsent sein. Das klingt für viele mühsam und anspruchsvoll. Meiner Meinung nach muss das aber nicht so sein. In kurzen, einfachen Videobotschaften können beispielsweise Einblicke in den Pfarralltag gezeigt werden, mit denen man eine Kontaktfläche bietet. Zudem besteht die Chance, dass man sich als Kirche einmal mehr überlegen muss, wie man sich öffentlich zeigen will.
Und welche Chancen bieten sich für die jüngeren Generationen?
Indem man digitalen Angeboten Platz gibt, gibt man auch den jüngeren Generationen bessere Anknüpfungspunkte an die Kirche. Wenn Pfarrpersonen zudem ein anderes Setting wählen, beispielsweise zu Hause auf der Couch sitzen und eine Kurzbotschaft aufzeichnen, liegt darin eine Chance. Besonders im angelsächsischen Raum ist diese Kommunikationsform verbreitet. Dadurch wird die Botschaft der Kirche sehr viel alltagsbezogener und für Dialogisches geöffnet.
Mit welchen Chancen und Herausforderungen ist die Religionspädagogik durch die Digitalisierungswelle konfrontiert?
Die wesentliche Frage in der Religionspädagogik lautete in den vergangenen Monaten: Wie gelingt es Lehrpersonen in Schule und Kirche mit den Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu bleiben? Unser Anliegen war es, zu zeigen, dass Bildung durch die Coronakrise nicht einfach stillgestellt werden darf. Die Religionspädagogik kann besonders Möglichkeiten digitaler Medien und Quellen aufzeigen, aber auch für die kritische Nutzung einen wichtigen Beitrag leisten. Hier als Beispiel die Frage: Wie gehe ich mit Hass im Netz um?
Wie sieht es mit neuen Veranstaltungen an der Universität aus?
An der Universität werden wir verstärkt Veranstaltungen anbieten, in denen der Umgang mit den neuen Medien betrachtet wird – etwa im interdisziplinären Gefäss für BA- und MA-Studierende «Studium Digitale». Dies ist auch für zukünftige Pfarrpersonen relevant, damit später vor der Kamera die Unsicherheiten möglichst gering sind. Denn die Komfortzone existiert vor der Kamera nicht mehr.
Die Hemmschwelle einen Online-Gottesdienst wegzuklicken, ist wesentlich tiefer, als eine Kirche während dem Gottesdienst zu verlassen. Wie können digitale kirchliche Angebote attraktiv und überzeugend gestaltet werden?
Der Inhalt muss prägnanter sein und einen Mut zur Kürze braucht es auch. Das Online-Angebot lebt von der Kontaktaufnahme zum Zuhörenden und den Zusehenden. Die Akteure vor der Kamera sollten überzeugt und freudig auftreten. Für einen guten Online-Gottesdienst brauche ich nicht die besten Musiker des Landes. Aber der Inhalt muss relevant sein und die Botschaft muss prägnant formuliert werden – das ist die Herausforderung. Und ganz nebenbei: Das gilt auch für den analogen Gottesdienst, denn da ist die Herausforderung, dass die Teilnehmenden zwar nicht wegklicken, aber im schlimmsten Fall wegnicken.
Haben Sie weitere Tipps, damit die digitalen Angebote nicht einfach im unverbindlichen, niederschwelligen digitalen Raum verschwinden?
Natürlich müssen keine Late-Night-Shows produziert werden, aber eine gute Portion Humor schadet nicht. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen können gut unterscheiden, wann etwas verbindlich ist und wann einfach konsumiert werden darf. Die Herausforderung im kirchlichen Bereich ist es, diese beiden Arten der Mediennutzung zusammenzuhalten. Zudem wird kirchliche Arbeit nicht ganz online sein können, aber auch nicht ganz offline bleiben können. Die gute Mischung macht es aus. Unbedingt aber sollten auch die jüngeren Generationen in die digitale Praxis der Kirche einbezogen werden, denn eigentlich sind sie die Experten, was die digitale Welt anbelangt.
Interview: Micha Rippert