Mich interessieren die Ränder

 

Religion war immer mein Thema. Aber erst nach zwanzig Berufsjahren war ich bereit, die Aussenperspektive als Journalistin aufzugeben und die Innenperspektive einzunehmen – als reformierte Pfarrerin.

In meiner Kindheit im Unterengadin gehörten Kirche und Glaube zum Alltag. Wir hatten viele Pfarrer in der Familie. Das grosse Erbe meines Grossvaters war eine Übersetzung der Bibel ins Rätoromanische. Die religiöse Strenge, in der ich aufwuchs, forderte auch meinen Widerstand heraus. Ich verliess die Heimat, besuchte nach einigen Semestern in Soziologie und Psychologie die Medienschule MAZ und begann meine Laufbahn als Radiojournalistin.

Das Interesse an Religion blieb. Da es mich wieder an die Uni zog, gab ich der Theologie eine Chance. Als ich nach dem Grundstudium das kirchliche Praxissemester absolvierte, wurde mir allerdings klar:  Ich kann nicht auf die Kanzel stehen. Was ich da verkünde, empfinde ich selbst nicht tief genug. So machte ich meinen Abschluss in Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Judentum und Psychologie.

Neben und nach dem Studium arbeitete ich weiter als Journalistin für Radio und Fernsehen. Bis ich einige Jahre später merkte: Jetzt kann ich Pfarrerin werden. Der Glaube, den ich Mitte zwanzig noch zu wenig empfunden hatte, war gewachsen. Und gleichzeitig die Überzeugung, dass unsere Gesellschaft Religion braucht – in einer freien und aufgeklärten Form.

Inzwischen habe ich die letzte Wegstrecke zur Ordination zurückgelegt und leiste in einem Neubaugebiet kirchliche Aufbauarbeit. Mich interessieren die Ränder: Die Ränder der Gesellschaft, des Lebens, der Kirche. Da ich beruflich lange Zeit die Aussensicht auf die Kirche gepflegt habe, fällt es mir leicht, den Zugang zu kirchendistanzierten Menschen zu finden. Ich lebe den Traum einer Religion für freie Geister.