Steter Tropfen höhlt den Stein

 

Eine Auseinandersetzung mit den grossen Fragen hatte in meiner Familie keinen Platz. Als Tochter eines russischen Diplomatenpaares, geboren in London und aufgewachsen in Moskau, wurde ich atheistisch erzogen. Dennoch liessen mich meine Eltern mit acht Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in der orthodoxen Kirche taufen. «Schadet ja nicht», dachte sich meine Mutter. Vom Priester bekam ich eine Ikone der heiligen Anna in die Hand gedrückt und lernte das Gebet auswendig, das auf der Rückseite stand. Wenn ich fortan in Not war, zündete ich eine Kerze vor der Ikone an, stellte mich davor auf und betete. Das gab mir Ruhe und Zuversicht.

Diese kindliche Religiosität hielt jedoch den kritischen Fragen nicht stand, die ich als Jugendliche stellte und die mir niemand beantwortete. Ich studierte Jura und lernte im Philosophieunterricht: «Gott ist tot.» Erst meine deutsche Schwiegermutter, eine überzeugte evangelische Christin, vermochte daran Zweifel zu wecken. Die Kraft, die sie in langwierigen Krebserkrankungen aus dem Glauben schöpfte, beeindruckte mich zutiefst. Ich stritt mich gerne mit ihr und forderte sie heraus, genauso wie sie mich. «Na, glaubst du jetzt?» triumphierte sie, als sie am Tag nach einer schweren Operation fröhlich durch das Krankenhaus marschierte.

Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Schwiegermutter überredete mich, unser Kind taufen zu lassen. In der schlichten reformierten Kirche in der Schweiz erkannte ich das Gefühl von damals wieder, als ich zur heiligen Anna betete: stille Geborgenheit. Meine Schwiegermutter starb einige Zeit später, doch der Funke, der auf mich übergesprungen war, ist nicht erlöscht. Inzwischen habe ich meine Tätigkeit für die Schweizer Börse aufgegeben, arbeite als Jugendarbeiterin in der Kirche und studiere Theologie. Zweifel und Fragen sind immer noch da. Aber ich sehe Gottes Spuren auf dem Weg, der mich hierhergebracht hat.

Anna Hemme-Unger auf Youtube